WAS MACHT DEN RAUM ZUM RAUM, DER BLEIBT?
Artikel für Zeitschrift: MD - Interior, Design, Architecture | 2016
Wir alle nehmen den gebauten Raum ständig wahr, unbewusst meist, manchmal gezielt uns orientierend, suchend, entdeckend. Raum ist Körper und Licht, Material und Farbe, Klang und Geruch. Seine Aura trifft auf unsere Wahrnehmungsfähigkeit – er umgibt uns, wir halten uns in ihm auf, er berührt uns.
Denken Sie sich in einen Raum hinein, der Sie beeindruckt und bewegt hat. Ein Museum vielleicht, ein Konzertraum, das Restaurant in den Bergen oder auch der Wohnbereich im Elternhaus. Bilder steigen in Ihnen auf, Erinnerungen, Gefühle. Und deutlich wird: Raum bedeutet unendliche Vielfalt, in drei Dimensionen erdachte Hülle ist als Raumereignis mit allen Sinnen erfahrbar.
In dieser Vielfalt zu denken, in diesem komplexen Geflecht von Wissen, Gefühl und Eigenschaften zu versuchen, qualitativ hochwertige Innenräume mit dichter Atmosphäre zu schaffen – das ist es, was mich seit über 30 Jahren täglich aufs Neue für unseren Beruf als Innenarchitekt begeistert.
Lassen Sie uns diesem Zusammenspiel von Raum-Wahrnehmung und -Ereignis nachspüren, das zu gestalten unsere bescheidene wie verantwortungsvolle Aufgabe ist, um Räume zu schaffen, die reich sind an Atmosphäre und uns bereichern.
„Erst formen wir unsere Räume, dann formen sie uns.“
Winston Churchill
EINFINDEN, oder: DER AUFTRAG DES KLIENTEN
Am Anfang der steht Kunde, meist jedenfalls, mitsamt eines oft eher funktional beschriebenen Auftrages: Raumprogramm und Funktionalität, Budget und Zeitraum für die Umsetzung – nein, emotionale, einprägsame Räume zu schaffen ist selten zentraler Auftrag und Ausgangspunkt.
So gilt es zunächst, die Informationen und Instruktionen zu der jeweiligen Bestellung genau zu analysieren: Der neu zu erdenkende Raum ist vorgesehen an einem bestimmten Ort für einen bestimmten Zweck und auch für eine bestimmte Nutzergruppe. Eine vorhandene räumliche Gegebenheit soll transformiert werden in einen anderen Zustand.
Dieser Zustand kann nicht aus dem Hut gezaubert werden – zunächst muss sich der Architekt auf die Herausforderungen einlassen die auf ihn zukommen, wenn Bauherren und andere Projektbeteiligte ihre Vorstellungen in die Diskussion einbringen.
Egal ob Krankenhaus oder Eingangshalle, Wohnung, Showroom oder Hotel – die vom Klienten formulierten Ansprüche und Wünsche an die Raumarchitektur sind hier zunächst eher funktionale, weniger räumliche Wünsche – sie gilt es ins Räumliche zu übersetzen.
Und ja - es kann geraume Zeit in Anspruch nehmen, sich in enger Abstimmung mit dem Bauherren an die Aufgabe, das Projekt heranzutasten.
Unsere Aufgabe ist es, gewissenhaft diese Schritte zu tun und gleichzeitig ein ganzheitliches Gespür zu entwickeln für das Endergebnis, das dann transportieren wird, was der Kunde im Katalog der Bestellung oft (noch) nicht zu formulieren weiß und das ihn doch bei Betrachtung sagen lassen wird: „Wundervoll. Genau so habe ich es mir vorgestellt“.
ENTWURF, oder: DEN RAUM (ER)DENKEN
Der Schritt dorthin führt über den Entwurf, ein so logisch-technisches wie emotional-zartes Wesen. Was ist eigentlich entwerferisches Denken? Was macht den Raum aus und woher kommen die Ideen, aus denen er entsteht?
Beim Vorgang des Entwerfens von Raum sind wir einem ständigen Hin und Her zwischen Verstand und Gefühl ausgesetzt. Die reine Funktion des Raumes und auch die konstruktiven Fragen stehen nun nicht mehr im Mittelpunkt – das architektonische Denken richtet sich vielmehr auf den Raum als ein vielfältiges, szenisches Ereignis.
Einerseits brauchen wir den klaren, geordneten Denkprozess, der uns mit möglichst breitem Wissen und Erfahrung überhaupt in die Lage versetzt, auf ein ganzheitliches Ergebnis ausgerichtet zu denken. Wissen um ästhetische, materielle und handwerkliche Praktiken und Techniken bilden eine zentrale Basis des gestalterischen Potentials, denn die beste Raumidee verpufft, ist sie nicht solide konstruiert und aus dem passenden Material erdacht. Auch ein fundiertes Wissen um Architektur- und Baugeschichtliches sowie die permanente Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Realitäten helfen uns, die Phasen des Entwerfens immer wieder zu analysieren, zu hinterfragen und in den richtigen Kontext zu setzen.
Andererseits kommen wir mit Verstand und Wissen allein niemals zu der Qualität des gebauten Raumes, die wir anstreben. Wir wissen um den Positionierungswunsch unseres Kunden im Verhältnis zur Konkurrenz, sind beeinflusst von der öffentlichen Aufmerksamkeit für die anstehende Aufgabe, versetzen uns hinein in die Besucher, die sich in den von uns geschaffenen Räumen wohl fühlen, zum Konsum angeregt sein sollen oder sich erfolgreich orientieren können. Entwerfen und Gestalten heißt also zunächst einmal eine Vorstellung von dem zu gewinnen, was man zu bauen beabsichtigt. Und diese Vorstellung ist geprägt von eigenen Gefühlen und Vorlieben, von Stimmungen und Projektionen, und natürlich auch von unserem kulturellen Hintergrund.
Insofern ist der Vorgang des Entwerfens immer hoch emotional. Ein neuer Gedanke, ein neues Bild im Kopf treibt uns voran im Prozess des Gestaltens; plötzliche Eingebungen können alles bis dahin Gedachte in einen vollkommen neuen Kontext stellen.
Das erst macht diesen Prozess ja so spannend, gar berauschend manchmal! Sich der Welt und ihrer Vielfalt zu öffnen ist hierbei zentral: Von Le Corbusier beispielsweise ist bekannt, dass er seine Vormittage in der Regel malend und zeichnend verbrachte, an Bildern, die nichts mit seiner Arbeit als Architekt zu tun hatten. Er selbst führte seine beruflichen Erfolge auf diese morgendliche künstlerische Einkehr zurück. Ob es das künstlerische ist, die Inspiration auf Reisen, der Besuch von Konzerten oder ein anderes Element – ohne diesen eigenen Denkraum, ohne diese Freiheit wird ein Entwurf nie sein ganzes Potenzial entfalten.
Die Gemengelage des Entwerfens ist also immer ein Prozess, in dem sich Einfall und Kreativität, Gefühl und Wissen verdichten. Das nicht rein rational Fassbare, Befindlichkeit und Emotionalität vermengen sich mit dem ganz praktischen Wissen und seiner Umsetzung. Unser Vermögen zu denken, etwas räumlich entwickeln und transformieren zu können ist zutiefst verwurzelt mit der Fähigkeit, unsere Wahrnehmung nicht nur auf das bereits Bekannte sondern ebenso auf das noch Versteckte, Unbekannte, Überraschende – wie z.B. den Transfer aus fachfremden Gebieten – auszurichten.
Denken Sie beispielsweise an einige Architekturen von Herzog & de Meuron – hier entwickelt sich aus der Recherche um den Bauplatz die Sprache der Fassade, hergestellt aus dem Kies des Aushubs (Schaulager, Basel) oder aus dem Dialog mit Künstlern die formale Struktur eines Baues oder die Textur einer Fassade.
Es sind Elemente wie diese, die erst das Verlassen von Gewöhnlichkeit ermöglichen.
ENTFACHEN oder: DER ATMOSPHÄRISCHE GEHALT
Eng verknüpft mit dem Entwurf und doch eine eigene Dimension unserer Arbeit ist es, den zu schaffenden Raum aufzuladen und ihm die Atmosphäre zu geben, die ihm gebührt. Wir dürfen nicht vergessen: Der architektonische Raum ist niemals von uns Menschen losgelöst, er ist immer bestimmt vom Verhältnis zum handelnden Subjekt, das ihn wahrnimmt und erlebt, misst und verändert, genießt und erleidet. Er stellt als Erlebnisraum ein Spielfeld dar, auf dem wir mit allen Sinnen agieren.
Der gezielte Versuch, Atmosphäre zu entwerfen setzt nicht nur die Beherrschung der klassischen Gestaltungs- und Entwurfsdisziplinen voraus sondern auch großes Wissen um die kontrollierte Herstellung irrationaler Wirkung von Gefühlen. Wie wirken die vielfältigen architektonischen Ausdrucksmittel auf den Benutzer des Raumes , wie trifft der geschaffene Charakter des Raumes auf den Menschen und wie schaffen wir es, dass die Stimmungsqualitäten des Raumes starke emotionale Reaktionen hervorrufen.
Immer besteht der gebaute Raum aus einer Vielfalt von Formen und Inhalten, die ihm ganz direkt eine unmittelbare Aussage verleihen. Boden, Wand und Decke erhalten durch Materialisierung eine bestimmte Atmosphäre. Betonung von Enge und Weite, gezieltes Setzen von Öffnungen und damit das Einbringen von Licht, Aufbrüche und Übergänge, Akzentuierungen und Ausarbeiten von Details, Licht, Farbe, Klang und Geruch – erst die Summe der sensorischen Eindrücke führt zu einem bestimmten raumhaften Erlebnis.
Ausgerichtet auf ein möglichst intensives ganzheitliches Ergebnis greifen wir zurück auf einen schier unbegrenzten Fundus von architektonischen Mitteln/Möglichkeiten, Raum-Atmosphäre zu gestalten – nie waren unsere Möglichkeiten vielfältiger und faszinierender als heute! Mit Formen und Materialien, Farben und Licht geben wir dem Raum eine objektive atmosphärische Struktur. Sie ist einmalig und mit diesem Raum verankert, sie hat immer eine unmittelbare Aussage.
Doch wie tiefgehend wir Raum denken und umsetzen, so müssen wir uns doch stets vor Augen führen: dieser von uns aufgeladene Raum wird niemals von zwei Menschen auf die gleiche Weise erfahren – sie könnten wohl seine wesentliche physische Räumlichkeit ähnlich beschreiben, ihre individuelle Empfindung beim Erleben des Raumes könnte dennoch vollkommen verschieden sein.
In den Worten Peter Zumthors: „Die Architektur steht in einer besonders körperlichen Verbindung mit dem Leben.“ Insofern haben wir entwerfenden Innenarchitekten immer daran zu denken, dass der Nutzer auf ganz subjektive Weise einen atmosphärischen Eindruck des Raumerlebnisses gewinnen wird. „Die Architektur ist eine Angelegenheit vieler Sinne“, sagte Richard Neutra. „Schon vorgeburtliche Erfahrungen prägen die Raumerfahrung des Leibes. Wert, Sinn und Bedeutung des gebauten Raumes gründen in dieser Biologisch-Psychologischen Grundstruktur.“
Den gebauten Raum erleben heißt, sich einzulassen auf Raum-Bewegungs-Zusammenhänge. Gehen, betrachten, mich wenden, durchschreiten lassen mich den Raumeindruck wahrnehmen und machen ihn zum gelebten Raum. Die subjektive Wahrnehmung und mein körperliches Empfinden werden durch die vielfältigen räumlichen Gegebenheiten und Vorgänge geprägt. Der Raum wirkt auf unser Handeln und auf unsere Gefühle – umso eindringlicher, je größer die Empathie des jeweiligen Nutzers ist. Kontinuierlich sind wir mit neuen Sinneseindrücken konfrontiert, sehen, hören, tasten, riechen und schmecken – unser Körper gibt seine Antwort auf den gebauten Raum. So können gebaute Räume anregend sein oder langweilig, beruhigend oder auch Spannung erzeugend. Was sie nicht können: Keine Wirkung im Benutzer entfachen. Raum lässt uns agieren, unser Körper setzt sich in Bezug zu ihm. Denken Sie noch einmal an „Ihren“ Raum – Was macht er mit Ihnen, was löst er aus?
VOLLENDUNG oder: Das ZUSAMMENSPIEL DER DIMENSIONEN
„C’est difficile, l’architecture!“ sagte Le Corbusier und soll damit Recht behalten. Die Aufgabe des Architekten und Innenarchitekten im Erdenken und Schaffen von Raum ist nicht zu unterschätzen – von der gestellten und Rahmen gebenden Aufgabe über den Entwurf bis zur Betonung der individuellen Atmosphäre des Raumes. Ja – Raum ist so viel mehr als seine physikalischen Begrenzungsflächen. Gute Raumarchitektur entsteht erst dort, wo zwischen dem physischen Raum, der den Handlungsrahmen für den Nutzer stellt und der „gebauten Atmosphäre“, die uns sinnliche Empfindungen spüren lässt, ein kraftvolles Spannungsfeld aufgebaut wird.
AUSBLICK oder: Wie werden wir Räume in Zukunft denken müssen
Die Welt verändert sich spürbar – unser Gefühl ist: draußen wird alles schneller und unsicherer. Mehr als jemals zuvor mischen sich Weltkulturen – lokal wie global entstehen neue, heterogene Kulturen. Das wird sich auf unseren Anspruch an die Räume auswirken.
So suchen wir auf der einen Seite nach Räumen, in denen wir Ruhe und Ausgeglichenheit finden – wir wollen der derzeit herrschenden Überinszenierung, der Reizüberflutung etwas entgegensetzen.
Auf der anderen Seite benötigen als Folge der Migration viele Menschen inszenatorisch unterschiedliche Räume, in denen die Kulturen auf vertraute Art und Weise gelebt werden können.
Und: Ein- und Zweipersonenhaushalte werden stark zunehmen. Raumkonzepte müssen kompakter und intelligenter gestaltet werden. Die deutlichen demografischen Verschiebungen müssen Berücksichtigung finden. Flexible Grundrisse können in Der Lage sein, für jeden Altersabschnitt passenden Zuschnitt und Funktion zu bieten. Das klassische Denken in Einzelräumen wird sich weiter reduzieren - Raumfunktionen wachsen zusammen.
Für diese Raumkonzepte stehen auch die Ansprüche der starken Gruppe der „Lohas“ (Lifestyle of Health and Sustainability“). Neben dem Wunsch nach gesundem und nachhaltigem Leben sowie flexibler Raumgestaltung werden sie eher auf Raum für menschliche Kommunikation setzen als auf Übertechnisierung. Mit dem Gedanken der Achtsamkeit brauchen wir Räume, deren Charakter so stark ist, dass wir in Aufmerksamkeit mit ihnen interagieren.
Die feste Integration von Urban-Gardening-Konzepten im Stadtraum wird ebenso sehr eine Rolle spielen wie die mediale Erweiterung von Architekturkonzepten.
Für den viel reisenden Menschen ist das Denken in neuen Räumen schon in vollem Gange. Abseits der bekannten Hotelstrukturen suchen sie Räume, an denen sie sich für einen begrenzten Zeitraum zu Hause fühlen können. So gibt es einen starken Trend weg von den Standards und hin zu unverwechselbaren und ursprünglichen Räumen mit einer Identität des Originalen. Darüber hinaus werden immer mehr Wo-Tels entwickelt werden, Pop-up-Hotels schaffen einmalige lokale Erlebnisse, Boardinghauses für Studenten, Seminarteilnehmer etc. werden vollkommen neu interpretiert.
Ebenfalls eine große Modifizierung werden die Shopping-Erlebnisräume erfahren. Zunehmendes Multi-Channel-Retail wird digitales und physisches Einkaufen immer näher zusammenbringen. Dadurch verändern sich nicht nur Warenpräsentationen und Markeninszenierungen. Raumkonzepte der großen Kaufhäuser müssen überdacht werden – werden vielleicht Mischnutzungen oder gleich vollkommen neuen Zwecken zugeführt. Handelskonzepte verschmelzen mehr und mehr mit Gastronomie- und Dienstleistungsangeboten. Digitale und interaktive Techniken (Augmented-Reality) nehmen am POS größere Bedeutung ein. Der Handel im gebauten Raum wird nicht verschwinden, aber der Raum wird deutlich identitätsstiftender werden und als Erlebnisraum das Bedürfnis des Kunden nach direktem und realen Erleben des Produktes unterstützen.
Für das Büro wird gelten, dass in vielen Branchen ortsungebundenes Arbeiten zum Standard wird. Zum großen Teil wird vom Home-Office aus gearbeitet (was räumliche Überlegungen für die Wohnung lostritt) und das Büro in der Firma ist nur noch Ort von direkter Kommunikation (also muss hier über Hybridnutzung, Coworking etc. nachgedacht werden). Da, wo große Firmen sich um die besten Mitarbeiter bemühen, werden Arbeitsumgebungen mit Lebensqualität und einer Vielfalt an unterschiedlichen Räumen gestaltet sein. Flexibilität, Kommunikation, Design –Thinking, stärkeres Verschmelzen von Leben und Arbeiten benötigen vollkommen neue Denkansätze für Gebäude, Raum, Material und Ausstattung.
Wir sehen – in der Innenarchitektur der Zukunft wird es nicht mehr nur um das klassische Denken in einzelnen Räumen gehen. Und wenn sich grundlegende Parameter der Raumwahrnehmungen und Raumanforderungen ändern dann ist von uns in höchstem Maße divergentes Denken gefordert - eine Aufgabe, die mich immer wieder von neuem demütig sein lässt gegenüber dem filigranen Zusammenspiel der Dinge, und die in mir immer wieder die Faszination für die schier unendlichen Möglichkeiten der Innenarchitektur befeuert, Raum möglichst so zu vollenden dass er uns zu berühren vermag.
Manfred Felix Haverkamp
Herford – 31.01.2016